7-1-30. Über transfinite Zahlen

Meine Herren! Ich will heute über den Begriff der transfiniten Kardinalzahl vor Ihnen sprechen; und zwar will ich zunächst von einem scheinbaren Widerspruch reden, den dieser Begriff enthält. Dazu schicke ich folgendes voraus: meiner Ansicht nach ist ein Gegenstand nur dann denkbar, wenn er sich mit einer endlichen Anzahl von Worten definieren läßt. Einen Gegenstand, der in diesem Sinne endlich definierbar ist, will ich zur Abkürzung einfach “definierbar” nennen. Demnach ist also ein nicht definierbarer Gegenstand auch undenkbar. Desgleichen will ich ein Gesetz “aussagbar” nennen, wenn es in einer endlichen Anzahl von Worten ausgesagt werden kann.

Herr Richard hat nun bewiesen, daß die Gesamtheit der definierbaren Gegenstände abzählbar ist, d. h. daß die Kardinalzahl dieser Gesamtheit 0\aleph_{0} ist. Der Beweis ist ganz einfach: sei α\alpha die Anzahl der Wörter des Wörterbuches, dann kann man mit nn Wörtern höchstens αn\alpha^{n} Gegenstände definieren. Läßt man nun nn über alle Grenzen wachsen, so sieht man, daß man nie über eine abzählbare Gesamtheit hinauskommt. Die Mächtigkeit der Menge der denkbaren Gegenstände wäre also 0\aleph_{0}. Herr Schoenflies hat gegen diesen Beweis eingewandt, daß man mit einer einzigen Definition mehrere, ja sogar unendlich viele Gegenstände definieren könne. Als Beispiel führt er die Definition der konstanten Funktionen an, deren es offenbar unendlich viele gibt. Dieser Einwand ist deshalb unzulässig, weil durch solche Definitionen gar nicht die einzelnen Gegenstände, sondern ihre Gesamtheit, in unserem Beispiel also die Menge der konstanten Funktionen definiert wird, und diese ist ein einziger Gegenstand. Der Einwand von Herrn Schoenflies ist also nicht stichhaltig.

Nun hat bekanntlich Cantor bewiesen, daß das Kontinuum nicht abzählbar ist; dies widerspricht dem Beweise von Richard. Es fragt sich also, welcher von beiden Beweisen richtig ist. Ich behaupte, sie sind beide richtig, und der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Zur Begründung dieser Behauptung will ich einen neuen Beweis für den Cantorschen Satz geben: Wir nehmen also an, es sei eine Strecke ABAB gegeben und ein Gesetz, durch welches jedem Punkte der Strecke eine ganze Zahl zugeordnet wird. Wir wollen der Einfachheit halber die Punkte durch die ihnen zugeordneten Zahlen bezeichnen. Wir teilen nun unsere Strecke durch zwei beliebige Punkte A1A_{1} und A2A_{2} in drei Teile, die wir als Unterstrecken 11. Stufe bezeichnen; diese teilen wir wieder in je drei Teile und erhalten Unterstrecken 22. Stufe; dieses Verfahren denken wir uns ins Unendliche fortgesetzt, wobei die Länge der Unterstrecken unter jede Grenze sinken soll. Der Punkt 11 gehört nun einer oder höchstens, wenn er mit A1A_{1} oder A2A_{2} zusammenfällt, zweien der Unterstrecken erster Stufe an, es gibt also sicher eine, der er nicht angehört. Auf dieser suchen wir den Punkt mit der niedrigsten Nummer, die nun mindestens 22 sein muß, auf. Unter den 33 Unterstrecken 22. Stufe, die zu derjenigen Strecke 11. Stufe gehören, auf der wir uns befinden, ist nun wieder mindestens eine, der der zuletzt betrachtete Punkt nicht angehört. Auf dieser setzen wir das Verfahren fort und erhalten so eine Folge von Strecken, die folgende Eigenschaften hat: jede von ihnen ist in allen vorhergehenden enthalten, und eine Strecke ntern^{\textrm{ter}} Stufe enthält keinen der Punkte 11 bis n-1n-1. Aus der ersten Eigenschaft folgt, daß es mindestens einen Punkt geben muß, der ihnen allen gemeinsam ist; aus der zweiten Eigenschaft folgt aber, daß die Nummer dieses Punktes größer sein muß als jede endliche Zahl, d. h. es kann ihm keine Zahl zugeordnet werden.

Was haben wir nun zu diesem Beweise vorausgesetzt? Wir haben ein Gesetz vorausgesetzt, das jedem Punkte der Strecke eine ganze Zahl zuordnet. Dann konnten wir einen Punkt definieren, dem keine ganze Zahl zugeordnet ist. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die verschiedenen Beweise dieses Satzes nicht. Dazu mußte aber das Gesetz zuerst feststehen. Nach Richard müßte anscheinend ein solches Gesetz existieren, aber Cantor hat das Gegenteil bewiesen. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus? Fragen wir einmal nach der Bedeutung des Wortes “definierbar”. Wir nehmen die Tafel aller endlichen Sätze und streichen daraus alle diejenigen, die keinen Punkt definieren. Die Übrigbleibenden ordnen wir den ganzen Zahlen zu. Wenn wir jetzt die Durchmusterung der Tafel von neuem vornehmen, so wird es sich im allgemeinen zeigen, daß wir jetzt einige Sätze stehen lassen müssen, die wir vorher gestrichen haben. Denn die Sätze, in welchen man von dem Zuordnungsgesetz selbst sprach, hatten früher keine Bedeutung, da die Punkte den ganzen Zahlen noch nicht zugeordnet waren. Diese Sätze haben jetzt eine Bedeutung, und müssen in unserer Tafel bleiben. Würden wir jetzt ein neues Zuordnungsgesetz aufstellen, so würde sich dieselbe Schwierigkeit wiederholen und so ad infinitum. Hierin liegt aber die Lösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen Cantor und Richard. Sei M0M_{0} die Menge der ganzen Zahlen, M1M_{1} die Menge der nach der ersten Durchmusterung der Tafel aller endlichen Sätze definierbaren Punkte unserer Strecke, G1G_{1} das Gesetz der Zuordnung zwischen beiden Mengen. Durch dieses Gesetz kommt eine neue Menge M2M_{2} von Punkten als definierbar hinzu. Zu M1+M2M_{1}+M_{2} gehört aber ein neues Gesetz G2G_{2}, dadurch entsteht eine neue Menge M3M_{3} usw. Richards Beweis lehrt nun, daß, wo ich auch das Verfahren abbreche, immer ein Gesetz existiert, während Cantor beweist, daß das Verfahren beliebig weit fortgesetzt werden kann. Es besteht also kein Widerspruch zwischen beiden.

Der Schein eines solchen rührt daher, daß dem Zuordnungsgesetz von Richard eine Eigenschaft fehlt, die ich mit einem von den englischen Philosophen entlehnten Ausdruck als “prädikativ” bezeichne. (Bei Russell, dem ich das Wort entlehne, ist eine Definition zweier Begriffe AA und AA^{\prime} nicht prädikativ, wenn AA in der Definition von AA^{\prime} und umgekehrt vorkommt.) Ich verstehe darunter folgendes: Jedes Zuordnungsgesetz setzt eine bestimmte Klassifikation voraus. Ich nenne nun eine Zuordnung prädikativ, wenn die zugehörige Klassifikation prädikativ ist. Eine Klassifikation aber nenne ich prädikativ, wenn sie durch Einführung neuer Elemente nicht verändert wird. Dies ist aber bei der Richardschen nicht der Fall, vielmehr ändert die Einführung des Zuordnungsgesetzes die Einteilung der Sätze in solche, die eine Bedeutung haben, und solche, die keine haben. Was hier mit dem Wort “prädikativ” gemeint ist, läßt sich am besten an einem Beispiel illustrieren: wenn ich eine Menge von Gegenständen in eine Anzahl von Schachteln einordnen soll, so kann zweierlei eintreten: entweder sind die bereits eingeordneten Gegenstände endgültig an ihrem Platze, oder ich muß jedesmal, wenn ich einen neuen Gegenstand einordne, die anderen oder wenigstens einen Teil von ihnen wieder herausnehmen. Im ersten Falle nenne ich die Klassifikation prädikativ, im zweiten nicht. Ein gutes Beispiel für eine nicht prädikative Definition hat Russell gegeben: AA sei die kleinste ganze Zahl, deren Definition mehr als hundert deutsche Worte erfordert. AA muß existieren, da man mit hundert Worten jedenfalls nur eine endliche Anzahl von Zahlen definieren kann. Die Definition, die wir eben von dieser Zahl gegeben haben, enthält aber weniger als hundert Worte. Und die Zahl AA ist also definiert als undefinierbar.

Zermelo hat nun gegen die Verwerfung der nicht prädikativen Definitionen den Einwand erhoben, daß damit auch ein großer Teil der Mathematik hinfällig würde, z. B. der Beweis für die Existenz einer Wurzel einer algebraischen Gleichung.

Dieser Beweis lautet bekanntlich folgendermaßen:

Gegeben ist eine Gleichung F(x)=0F(x)=0. Man beweist nun, daß |F(x)|\left|F(x)\right| ein Minimum haben muß; sei x0x_{0} einer der Argumentwerte, für den das Minimum eintritt, also

|F(x)||F(x0)|\left|F(x)\right|\geq\left|F(x_{0})\right|

Daraus folgt dann weiter, daß F(x0)=0F(x_{0})=0 ist. Hier ist nun die Definition von F(x0)F(x_{0}) nicht prädikativ, denn dieser Wert hängt ab von der Gesamtheit der Werte von F(x)F(x), zu denen er selbst gehört.

Die Berechtigung dieses Einwandes kann ich nicht zugeben. Man kann den Beweis so umformen, daß die nicht prädikative Definition daraus verschwindet. Ich betrachte zu diesem Zwecke die Gesamtheit der Argumente von der Form m+nip\frac{m+ni}{p}, wo mm, nn, pp ganze Zahlen sind. Dann kann ich dieselben Schlüsse wie vorher ziehen, aber der Argumentwert, für den das Minimum von |F(x)|\left|F(x)\right| eintritt, gehört im allgemeinen nicht zu den betrachteten. Dadurch ist der Zirkel im Beweise vermieden. Man kann von jedem mathematischen Beweise verlangen, daß die darin vorkommenden Definitionen usw. prädikativ sind, sonst wäre der Beweis nicht streng.

Wie steht es nun mit dem klassischen Beweise des Bernsteinschen Theorems? Ist er einwandfrei? Das Theorem sagt bekanntlich aus, daß, wenn drei Mengen AA, BB, CC gegeben sind, wo AA in BB und BB in CC enthalten ist, und wenn AA äquivalent CC ist, auch AA äquivalent BB sein muß. Es handelt sich also auch hier um ein Zuordnungsgesetz. Wenn das erste Zuordnungsgesetz (zwischen AA und CC) prädikativ ist, so zeigt der Beweis, daß es auch ein prädikatives Zuordnungsgesetz zwischen AA und BB geben muß.

Was nun die zweite transfinite Kardinalzahl 1\aleph_{1} betrifft, so bin ich nicht ganz überzeugt, daß sie existiert. Man gelangt zu ihr durch Betrachtung der Gesamtheit der Ordnungszahlen von der Mächtigkeit 0\aleph_{0}; es ist klar, daß diese Gesamtheit von höherer Mächtigkeit sein muß. Es fragt sich aber, ob sie abgeschlossen ist, ob wir also von ihrer Mächtigkeit ohne Widerspruch sprechen dürfen. Ein aktual Unendliches gibt es jedenfalls nicht.

Was haben wir von dem berühmten Kontinuumproblem zu halten? Kann man die Punkte des Raumes wohlordnen? Was meinen wir damit? Es sind hier zwei Fälle möglich: entweder behauptet man, daß das Gesetz der Wohlordnung endlich aussagbar ist, dann ist diese Behauptung nicht bewiesen; auch Herr Zermelo erhebt wohl nicht den Anspruch, eine solche Behauptung bewiesen zu haben. Oder aber wir lassen auch die Möglichkeit zu, daß das Gesetz nicht endlich aussagbar ist. Dann kann ich mit dieser Aussage keinen Sinn mehr verbinden, das sind für mich nur leere Worte. Hier liegt die Schwierigkeit. Und das ist wohl auch die Ursache für den Streit über den fast genialen Satz Zermelos. Dieser Streit ist sehr merkwürdig: die einen verwerfen das Auswahlpostulat, halten aber den Beweis für richtig, die anderen nehmen das Auswahlpostulat an, erkennen aber den Beweis nicht an.

Doch ich könnte noch manche Stunde darüber sprechen, ohne die Frage zu lösen.

PD. Poincaré (1910, 45–48).

Time-stamp: “ 4.05.2019 00:49”

Literatur

  • H. Poincaré (1910) Sechs Vorträge über ausgewählte Gegenstände aus der reinen Mathematik und mathematischen Physik. Teubner, Leipzig/Berlin. link1 Cited by: 7-1-30. Über transfinite Zahlen.