2-22-1. Hermann Ebert an H. Poincaré
Gries bei Bozen, 29.III.9211endnote: 1 Italie (Sud-Tyrol).
Erlangen, Bayern Universität
Hochverehrter Herr Professor!
Verzeihen Sie, wenn ich es unternehme mich persönlich an Sie zu wenden und zwar mich dabei meiner Muttersprache bedienend; ich lese zwar das Französisch vollkommen, wage es aber doch nicht recht mich dieser schönen Sprache im vorliegenden Falle zu bedienen.
Ich möchte ihnen zunächst einmal meinen Dank aussprechen für die Belehrung, Förderung und Anregung, die ich Ihnen schönen Büchern verdanke. Ich habe mit grösstem Interesse gelesen Ihre „Théorie mathématique de la Lumière“, Ihre „Électricité et Optique I et II“, und bin jetzt gerade an dem Studium ihrer „Thermodynamique“.22endnote: 2 Poincaré (1889, 1890, 1891, 1892). Von derselben habe ich zunächst das letzte Capitel vorgenommen, da ich mich augenblicklich eingehender mit Helmholtz Theorie der cyklischen Bewegungen beschäftige.33endnote: 3 Il s’agit du dernier chapitre de la Thermodynamique, intitulé “Réduction des principes de la thermodynamique aux principes généraux de la mécanique”, dans lequel Poincaré analyse un mémoire de Helmholtz (1887b, 1887a,) sur la signification physique du principe de moindre action. Sie haben mit grosser Eleganz das Wichtigste dieser Theorie in dem genannten Capitel gebracht, was ich mit grosserer Freude und wachsendem Interesse gelesen habe. An einer Stelle bin ich mir nicht recht klar, ob ich Sie wohl richtig verstehe, oder ob sich vielleicht doch ein kleines Versehen eingeschlichen hat. Ich nehme mir die Freiheit mich mit einer diesbezüglichen Frage an Sie zu wenden:
Pag. 400, oben von Zeile 2 an wird gesagt, dass
von der Form sei u.s.f. Das ist wohl nicht ganz richtig, weil ja sonst selbst und damit vom 3. Grade in den sein müsste. Die sind homogene lineare Funktionen in den u. wenn die sowie die klein sind, ist gleich 0. Leicht zu berichtigende Druckfehler sind pag. 402 Zeile 8 und 4 von unten statt ; pag. 403 Zeile 9 von unten statt ; pag. 405, Zeile 7, 9, 11, 14 von oben statt ; pag. 412, Zeile 7–8 von oben fehlt der Faktor , ebenso pag. 413 Zeile 13 bei dem Glieder ; ich erlaube mir nur Ihre Aufmerksamkeit auf dieselben zu lenken um Ihnen zu zeigen, wie sorgfältig ich Ihre schönen Darstellungen durchstudiere, und weil vielleicht diese Kleinigkeiten bei einer Neuauflage Berichtigungen erfahren könnten; denn es ist schade wenn eine elegante und glatte Entwickelung durch solche Steine des Anstosses unterbrochen wird.
Mehr Schwierigkeiten hat mir eine Stelle pag. 413 oben gemacht, wo
gesetzt wird. Da integriert wird zwischen zwei Zeitpunkten, für welche beide wird, so hat das bestimmte Integral von den Wert 0, das zweite Glied auf der rechten Seite der Gleichungen pag. 414 ist also doch wohl immer gleich 0 u. steht nur zum Scheine hier; in der That ist es ja auch ganz überflüssig und
Pag. 417 Zeile 8–9 von oben muss die zweite Gleichung wohl lauten:
Sehr grosse Scrupel hat mir Ihr Nachweis in § 328–330 pag. 418 flgde gemacht, dass die Helmholtzsche Theorie nicht im Stande sein soll die irreversibelen Prozesse zu erklären; wenn Sie mich darüber aufklären wollten, worin ich hierbei im Unklaren bin, würde ich Ihnen zum allergrössten Danke verpflichtet sein, denn der Eindruck, den Ihr Einwurf beim ersten Ueberlesen auf mich machte, war ein geradezu niederschmetternder. Bei näherer Betrachtung indessen will es mir scheinen, als ob Ihr Einwurf gar nicht die Helmholtz’sche Theorie als solche trifft. Verstehe ich die genannten §§ recht, so ist der Gedankengang folgender: Angenommen der Clausius’sche Satz von der Vermehrung der Entropie eines sich selbst überlassenen Systems sei richtig (pag. 419, Zeile 4 flgnde), was folgt daraus? Sie zeigen in höchst eleganter Weise, dass man zu Widersprüchen mit den Grundgleichungen der Mechanik gelangt.44endnote: 4 Rudolf Clausius (1822–1888). Bei diesem Nachweise treten aber nirgends Ausdrücke ein, welche der Helmholtz’schen Theorie speciell eigentümlich wären; Sie benutzen nur Gleichungen die der allgemeinen Mechanik angehören und solche die unmittelbar ohne jede weitere Annahme aus diesen folgen. Mir scheint es, dass nur bewiesen ist, dass der bezeichnete Satz sich nicht mit den Principien der allgemeinen Mechanik verträgt; die Helmholtz’sche Theorie beginnt doch erst dort, wo über das Wesen der Parameter bestimmte Vorstellungen eingeführt werden. Die genannte Ableitung scheint mir also nicht zu den Bemerkungen pag. 392, § 309 Ende u. § 330 vorletzter Abschnitt gegen die Helmholtz’sche Theorie zu berechtigen. Ich glaubte nur schliessen zu dürfen entweder der Clausius’sche Satz ist nicht richtig oder in der genannten Ableitung ist nicht alles in Ordnung. In dieser Beziehung hat sich mir nun folgendes Bedenken aufgedrängt: In dem jeder äusseren Einwirkung dauernd entzogenen System ist gleich 0, denn (pag. 405); sind die hier eingeführten unabhängigen Variabelen u. wirklich von einander unabhängig, so heisst das und . Der Ausdruck, auf den Sie Ihr Kriterium stützen,
aus dessen Nullwerden für andere Werte der unabhängigen Variabelen als , auf das Vorhanden sein von negativen Gliedern in der quadratischen Form geschlossen wird, ist also eo ipso dauernd gleich u. ein Schluss von der Art wie Sie ihn hier ziehen, will mir nicht ganz sicher erscheinen.
Ich irre mich vielleicht, und habe Sie wahrscheinlich nicht recht verstanden, aber es wäre mir im höchsten Grade erwünscht, wenn Sie die Liebenswürdigkeit haben wollten, mich über diesen so sehr wichtigen Punkt aufzuklären.
Ich hoffe in dieser Beziehung keine Fehlbitte zu tun, da ich mich schon lange zu Ihren entfernteren Schülern zähle.55endnote: 5 Poincaré ne prendra pas en compte les remarques d’Ebert dans la 2e édition de sa Thérmodynamique (Poincaré 1908). Mais Ebert publiera son propre cours par la suite (Ebert, 1912).
Seien Sie meiner vorzüglichsten Hochachtung versichert und genehmigen Sie den aufrichtigsten Dank von
Ihrem ergebensten
H. Ebert
ALS 11p. Collection particulière, Paris 75017.
Time-stamp: "19.06.2023 16:07"
Notes
- 1 Italie (Sud-Tyrol).
- 2 Poincaré (1889, 1890, 1891, 1892).
- 3 Il s’agit du dernier chapitre de la Thermodynamique, intitulé “Réduction des principes de la thermodynamique aux principes généraux de la mécanique”, dans lequel Poincaré analyse un mémoire de Helmholtz (1887b, 1887a,) sur la signification physique du principe de moindre action.
- 4 Rudolf Clausius (1822–1888).
- 5 Poincaré ne prendra pas en compte les remarques d’Ebert dans la 2e édition de sa Thérmodynamique (Poincaré 1908). Mais Ebert publiera son propre cours par la suite (Ebert, 1912).
Literatur
- Lehrbuch der Physik, Volume 1: Mechanik, Wärmelehre. Teubner, Leipzig. link1 Cited by: endnote 5.
- Ueber die physikalische Bedeutung des Princips der kleinsten Wirkung (Forsetzung). Journal für die reine und angewandte Mathematik 100, pp. 213–222. link1 Cited by: endnote 3.
- Ueber die physikalische Bedeutung des Princips der kleinsten Wirkung. Journal für die reine und angewandte Mathematik 100, pp. 213–222. link1 Cited by: endnote 3.
- Leçons sur la théorie mathématique de la lumière, Volume 1. Georges Carré, Paris. link1 Cited by: endnote 2.
- Électricité et optique, Volume 1. Georges Carré, Paris. link1 Cited by: endnote 2.
- Électricité et optique II: les théories de Helmholtz et les expériences de Hertz. Georges Carré, Paris. link1 Cited by: endnote 2.
- Thermodynamique. Georges Carré, Paris. link1 Cited by: endnote 2.
- Thermodynamique. Gauthier-Villars, Paris. link1 Cited by: endnote 5.