7-1-27. Anwendung der Theorie der Integralgleichungen auf die Flutbewegung des Meeres
Ich will heute über einige Anwendungen der Integralgleichungstheorie auf die Flutbewegung berichten, die ich im letzten Semester gelegentlich einer Vorlesung über diese Erscheinung gemacht habe.
Die Differentialgleichungen des Problems sind die folgenden:
(1) |
Wir stellen uns dabei vor, daß die Kugeloberfläche der Erde etwa durch stereographische Projektion konform auf die -Ebene bezogen sei; dann bedeute das Ähnlichkeitsverhältnis der Abbildung zwischen Ebene und Kugel. Die Lösung des Flutproblems denken wir uns durch periodische Funktionen der Zeit gegeben, und wir nehmen speziell an, daß unsere Gleichungen (1) einem einzigen periodischen Summanden von der Form entsprechen, sodaß also in unseren Gleichungen die Schwingungsperiode bestimmt; es ist bequem, statt des Kosinus komplexe Exponentialgrößen einzuführen und also etwa anzunehmen, daß alle unsere Funktionen die Form
haben; der reelle und imaginäre Teil dieser komplexen Lösungen stellt uns dann die physikalisch brauchbaren Lösungen dar.
ist definiert durch
wo das hydrostatische Potential, der Druck ist.
Ist die Tiefe des Meeres, so definieren wir
wo die Colatitude des zu gehörigen Punktes der Erde, die Winkelgeschwindigkeit der Erde bedeutet. ist die Differenz zwischen der Dicke der mittleren und der gestörten Wasserschicht, d. h. entspricht der Ebbe, der Flut. ist die Beschleunigung der Schwerkraft, das Potential der Störungskräfte, ist das Potential, welches von der Anziehung der Wassermassen von der Dicke herrührt. Ist z. B.
so wird | ||||
wo die die Kugelfunktionen sind.
Die Einheiten sind so gewählt, daß die Dichte des Wassers gleich , der Radius der Erdkugel gleich ist.
Die Größe kann man meistens vernachlässigen; tut man dies, so erhält man sofort für eine partielle Differentialgleichung 2. Ordnung. Um aus derselben zu bestimmen, muß man gewisse Grenzbedingungen vorschreiben. Wir unterscheiden da zwei Fälle:
1. Der Rand des Meeres ist eine vertikale Mauer; dann wird
wobei , die normale bzw. tangentiale Ableitung von ist.
2. Der Rand des Meeres ist nicht vertikal; dann ist dort
Die Grenzbedingung lautet hier, daß am Rande regulär und endlich bleiben soll.
Um auf diese Probleme die Methoden der Integralgleichungen anwenden zu können, erinnern wir uns zunächst der allgemeinen Überlegungen, wie sie Hilbert und Picard für Differentialgleichungen anstellen. Sei
eine partielle Differentialgleichung 2. Ordnung für , die elliptischen Typus hat, so ist eine, gewisse Grenzbedingungen erfüllende, Lösung darstellbar in der Form
wobei die zu diesen Randbedingungen gehörige Greensche Funktion des Differentialausdruckes ist; ist , , und das Integral ist über dasjenige Gebiet der -Ebene zu erstrecken, für welches die Randwertaufgabe gestellt ist. Um die Greensche Funktion zu berechnen und so die Randwertaufgabe zu lösen, setze man
wo
ein linearer Differentialausdruck ist. Nehmen wir nun an, wir kennen die Greensche Funktion von , so haben wir die Lösung von
in der Form
Schaffen wir hieraus durch partielle Integrationen die Ableitungen , heraus, so werden wir direkt auf eine Integralgleichung zweiter Art für geführt, die wir nach der Fredholmschen Methode behandeln können, wenn ihr Kern nicht zu stark singulär wird.
Bei unserem Probleme der Flutbewegung tritt nun gerade dieser Fall ein; der Kern wird so hoch unendlich, daß die Fredholmschen Methoden versagen; ich will Ihnen jedoch zeigen, in welcher Weise man diese Schwierigkeiten überwinden kann.
Betrachten wir erst den Fall der ersten Grenzbedingung
wo eine gegebene Funktion von ist. Die Differentialgleichung, die sich bei Vernachlässigung von ergibt, hat die Form
und wir stehen daher vor der Aufgabe, die Gleichung
mit unserer Randbedingung zu integrieren.
Diese Aufgabe ist äquivalent mit der, eine im Innern der Randkurve reguläre Potentialfunktion , die am Rande die Bedingung erfüllt, als Potential einer einfachen Randbelegung zu finden. Bezeichnet die Bogenlänge auf der Randkurve von einem festen Anfangspunkte bis zu einem Punkte , die bis zum Punkte , so erhält man für eine Integralgleichung; jedoch wird der Kern derselben für von der ersten Ordnung unendlich, und es ist daher in dem Integrale
der sogenannte Cauchysche Hauptwert zu nehmen, der definiert ist als das arithmetische Mittel aus den beiden Werten, die das Integral erhält, wenn ich es in der komplexen -Ebene unter Umgehung des Punktes das eine mal auf einem Wege oberhalb, das andere mal auf einem Wege unterhalb der reellen Achse führe.
Anstatt die Methoden zu benutzen, die Kellogg zur Behandlung solcher unstetiger Kerne angibt, will ich einen andern Weg einschlagen. Wir betrachten neben der Operation
die iterierte
bei der ebenfalls das Doppelintegral als Cauchyscher Hauptwert zu nehmen ist; dies soll folgendermaßen verstanden werden: wir betrachten für die Variable die Wege , , für die Wege , , die zueinander liegen mögen, wie in der Figur angedeutet ist. Dann bilden wir die 4 Integrale, die sich ergeben, wenn ich einen Weg für mit einem für kombiniere;
, | , | , | ||
, | , | , | , |
und nehmen aus diesen 4 Integralen das arithmetische Mittel. Ziehen wir noch 2 Wege , wie in der Figur, so sehen wir, daß sich in der ersten Wegkombination der Weg für ersetzen läßt durch , in der zweiten durch , in der dritten durch und in der vierten durch , sodaß wir jetzt die folgenden Wegkombinationen haben:
. |
Führen wir jetzt die Integrale aus und wenden den Residuenkalkül auf die geschlossenen Wege an, so zeigt sich, daß unsere Operation , die einer Integralgleichung 1. Art zugehört, übergeht in eine Operation, welche durch die linke Seite einer Integralgleichung 2. Art gegeben ist, deren Kern überall endlich bleibt; wenn wir zuerst die vier Kombinationen von den Wegen und mit den Wegen und nehmen, so bekommen wir ein doppeltes Integral, welches nicht unendlich werden kann, da auf diesen Wegen und . Betrachten wir jetzt die beiden Wegkombinationen , und , , oder , und , so ist leicht zu sehen, daß eine geschlossene Kurve oder um beschreibt, und daß gleichzeitig eine geschlossene Kurve um beschreibt. Wir dürfen also die Residuenmethode anwenden, und wir bekommen ein Glied, wo die unbekannte Funktion ohne Integralzeichen auftritt, wie in der linken Seite einer Integralgleichung zweiter Art. Indem wir so auf eine durchaus reguläre Integralgleichung 2. Art geführt werden, die der Fredholmschen Methode zugänglich ist, haben wir die Schwierigkeit bei unserem Problem überwunden.
Nur ein Punkt bedarf noch der Erläuterung: wenn und gleichzeitig in einen der Endpunkte des Intervalles hineinfallen, so versagen zunächst die obigen Betrachtungen, und es scheint, als wären wir für diese Stellen der Endlichkeit unseres durch Iteration gewonnenen Kernes nicht sicher. Dieses Bedenken wird jedoch bei unserm Problem dadurch beseitigt, daß der Rand des Meeres, der das Integrationsintervall darstellt, geschlossen ist, woraus sich ergibt, daß die Punkte keine Ausnahmestellung einnehmen können.
Durch diese Überlegungen ist also der Fall der vertikalen Meeresufer erledigt.
Wir betrachten den zweiten und schwierigeren Fall, daß das Ufer des Meeres keine vertikale Mauer ist. Dann ist am Rande
Da die Glieder 2. Ordnung unserer Differentialgleichung für durch den Ausdruck
gegeben sind, so ist die Randkurve jetzt eine singuläre Linie für die Differentialgleichung. Außerdem werden gemäß ihrer Definition für die durch die Gleichung
gegebene kritische geographische Breite unendlich. Um trotz dieser Singularitäten, welche das Unendlichwerden des Kerns zur Folge haben, das Problem durchzuführen, bin ich gezwungen gewesen, das reelle Integrationsgebiet durch ein komplexes zu ersetzen, indem ich in eine komplexe Veränderliche verwandle; hingegen bleibt reell.
Wir deuten als gewöhnliche rechtwinklige Koordinaten in einem dreidimensionalen Raum und zeichnen den Durchschnitt einer Ebene mit dem in der -Ebene gelegenen Meeresbecken. Entspricht der kritischen geographischen Breite, so ist es nicht schwer, diese Singularität durch Ausweichen in das komplexe Gebiet zu umgehen. Wählen wir ferner irgend zwei Punkte zwischen und und umgeben , von ausgehend und dorthin zurückkehrend, mit einer kleinen Kurve und verfahren entsprechend bei — räumlich gesprochen: umgeben wir die Randkurve mit einem ringförmigen Futteral —, so stellen wir uns jetzt das Problem, unsere Differentialgleichung so zu integrieren, daß , wenn wir seine Wertänderung längs der den Punkt umgebenden Kurve verfolgen, mit demselben Wert nach zurückkehrt, mit dem es von dort ausging. Diese “veränderte” Grenzbedingung ist mit der ursprünglichen, welche verlangte, daß am Rande (im Punkte ) endlich bleibt und sich regulär verhält, äquivalent. Zwar sind die zu der neuen und der alten Grenzbedingung gehörigen Greenschen Funktionen , nicht identisch, wohl aber die den betreffenden Randbedingungen unterworfenen Lösungen von
(1) |
Hiervon überzeugen wir uns leichter im Falle nur einer Variablen ; dann ergeben die Gleichungen
durch Anwendung des Cauchyschen Integralsatzes, daß ist.
Um jetzt das Problem (1) zu behandeln, ziehe ich die vorige Methode heran, die hier aber in zwei Stufen zur Anwendung kommt, da unsere veränderte Randbedingung für die Gleichung unzulässig ist.11endnote: 1 Diese Randbedingung ist nicht von solcher Art, daß sie eine bestimmte Lösung von auszeichnet. Wir können setzen
dabei soll nur die Glieder 1. Ordnung aber nur selbst enthalten. Indem wir
unter der Randbedingung integrieren, erhalten wir für eine am Rande endliche und reguläre Funktion, für welche
ist. Darauf integrieren wir
unter Zugrundelegung der ursprünglichen Grenzbedingung nach der gewöhnlichen Methode. Der in der hierbei zu benutzenden Integralgleichung auftretende Kern ist zwar unendlich, aber von solcher Ordnung, daß sich die Singularität durch Iteration des Kerns beseitigen läßt: die partielle Integration, welche Glieder von einer zu hohen Ordnung des Unendlichwerdens einführen würde, bleibt uns an dieser Stelle erspart.
Das damit bewältigte Integrationsproblem ist aber der Integration von
unter der veränderten Grenzbedingung äquivalent, und infolgedessen können wir jetzt die zweite Stufe ersteigen und auch die Lösung von
unter der veränderten Grenzbedingung bestimmen.
Wir haben bis jetzt das Glied als so klein vorausgesetzt, daß wir es ganz vernachlässigen durften. Heben wir diese Voraussetzung auf, so entstehen keine wesentlichen neuen Schwierigkeiten. ist ein von erzeugtes Anziehungspotential; wir haben also
wenn ein Flächenelement der Kugel, den Wert der Funktion im Schwerpunkt dieses Flächenelementes, aber die räumlich gemessene Entfernung der beiden Kugelpunkte ; bedeutet, und die Integration über die ganze Kugeloberfläche erstreckt wird. Wir können auch schreiben
Setzen wir dies in unsere Ausgangsgleichungen ein, von denen wir noch die erste mittels Aufstellung der zugehörigen Greenschen Funktion und unter Berücksichtigung der Randbedingung aus einer Differential- in eine Integralgleichung verwandeln, so erhalten wir zwei simultane Integralgleichungen für und , die mit Hilfe der soeben erörterten Methoden aufgelöst werden können.
PD. Poincaré (1910, 13–19).
Time-stamp: “ 4.05.2019 00:49”
Literatur
- Sechs Vorträge über ausgewählte Gegenstände aus der reinen Mathematik und mathematischen Physik. Teubner, Leipzig/Berlin. link1 Cited by: 7-1-27. Anwendung der Theorie der Integralgleichungen auf die Flutbewegung des Meeres.