4-44-39. Felix Klein an H. Poincaré

14. Januar 1902

Göttingen

Sehr verehrter Freund und College!

Heute komme ich mit einer Bitte, die ich zugleich im Namen zahlreicher Collegen an Sie richte. Die (internationale) astronomische Gesellschaft hat, wie Sie jedenfalls wissen, in diesem Jahre ihre Hauptversammlung in Göttingen, und zwar sind dafür die Tage vom 5–8ten August in Ansicht genommen. Würde es Ihnen irgend möglich sein, dass Sie an dieser Versammlung teilnehmen? Wir Göttinger wollen in der That versuchen, einen möglichst vielseitigen Besuch von Seiten der theoretischen Astronomen herbeizuführen. Dies wird, so hoffen wir, nicht nur den Verhandlungen eine besondere Bedeutung geben, sondern auf den Betrieb der Astronomie, der bei uns etwas einseitig geworden ist, und ihre Beziehung zu Mathematik belebend zurückwirken (ich hoffe namentlich auch, dass der astronomische Teil unserer mathematischen Encyclopädie, der noch im Stadium der ersten Vorbereitung ist, dadurch eine wesentliche Förderung erhält).11endnote: 1 Klein deplores the relative absence of theoretical astronomers in Germany. The leading figure at the turn of the twentieth century was Hugo von Seeliger, director of the Munich Observatory, and Karl Schwarzschild’s former thesis director. Schwarzschild was charged with editing the astronomical part of the the volume on geodesy, geophysics, and astronomy in Klein’s six-volume Encyklopädie; see Schwarzschild et al. (1905). Sie finden hier in Göttingen jetzt den Boden dafür besonders vorbereitet, in dem neben Brendel, den Sie kennen, als neuberufener Direktor der Sternwarte Schwarzschild steht, wir also mit jugendlichen Kräften einsetzen.22endnote: 2 Klein was instrumental to Schwarzschild’s recruitment at the University of Göttingen, where he became director of the Observatory shortly before Klein wrote to Poincaré, in December 1901 (Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung 11, 1902, 83). Nach anderer Seite hoffen wir den astronomischen Nachlaß von Gauß geordnet vorlegen zu können. Diese allgemeineren Andeutungen mögen hier genügen; welch’ besonderen Werth wir im Zusammenhang mit denselben Ihrer Anwesenheit beilegen würden, brauche ich nicht auszuführen. Ich möchte Sie bitten, möglichst auch Ihren Einfluß dahin verwenden zu wollen, dass von den zahlreichen jüngeren französischen theoretischen Astronomen der eine oder andere herkommt! An Callandreau werde ich noch direct schreiben.

Von mir selbst ist hier nicht viel zu berichten, als dass es mir und den Meinigen gut geht. Ich bin in den letzten Jahren wesentlich mit Organisationsfragen beschäftigt gewesen und hoffe, dass Sie, wenn Sie herkommen, gewisse Fortschritte in unseren Instituten wie allgemeineren Einrichtungen wahrnehmen werden. Daneben hat Hilbert in ausgezeichneter Weise theoretisch weitergearbeitet. Die Festschriften zum 150. jährigen Jubilaeum unserer Akademie werden Sie ja neulich richtig bekommen haben, in denen Hilbert das Dirichlet’sche Princip auf eine neue Basis stellt, während ich Gauß’ ursprüngliches wissenschaftliches Tagebuch publiciere.33endnote: 3 See Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1901b); Hilbert’s paper on the Dirichlet Principle was reedited in Hilbert (1904), while Klein’s paper on Gauss’s scientific journal appeared in a separate volume (Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1901a), and was reedited in Klein (1903).

Mit der Bitte, mich den werthen Ihrigen freundschaftlichst empfehlen zu wollen, Ihr sehr ergebener,

F. Klein

ALS 4p. Private collection, Paris 75017. English and French translations are available; see (§ 7-2-76) and (§ 7-2-75), respectively.

Time-stamp: "10.09.2021 19:11"

Notes

  • 1 Klein deplores the relative absence of theoretical astronomers in Germany. The leading figure at the turn of the twentieth century was Hugo von Seeliger, director of the Munich Observatory, and Karl Schwarzschild’s former thesis director. Schwarzschild was charged with editing the astronomical part of the the volume on geodesy, geophysics, and astronomy in Klein’s six-volume Encyklopädie; see Schwarzschild et al. (1905).
  • 2 Klein was instrumental to Schwarzschild’s recruitment at the University of Göttingen, where he became director of the Observatory shortly before Klein wrote to Poincaré, in December 1901 (Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung 11, 1902, 83).
  • 3 See Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1901b); Hilbert’s paper on the Dirichlet Principle was reedited in Hilbert (1904), while Klein’s paper on Gauss’s scientific journal appeared in a separate volume (Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1901a), and was reedited in Klein (1903).

Literatur

  • D. Hilbert (1904) Über das Dirichlet’sche Prinzip. Mathematische Annalen 59, pp. 161–186. link1 Cited by: endnote 3.
  • F. Klein (1903) Gauß’ wissenschaftliches Tagebuch 1796–1814. Mathematische Annalen 57, pp. 1–34. link1 Cited by: endnote 3.
  • Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (Ed.) (1901a) Festschrift zur Feier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Beiträge zur Gelehrtengeschichte Göttingens. Weidmann, Berlin. link1 Cited by: endnote 3.
  • Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (Ed.) (1901b) Festschrift zur Feier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Weidmann, Berlin. link1 Cited by: endnote 3.
  • K. Schwarzschild, S. Oppenheim, and W. von Dyck (Eds.) (1905) Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen, Bd. 6, Geodäsie, Geophysik, und Astronomie, Teil 2, Hälfte 1. Teubner, Leipzig. link1 Cited by: endnote 1.