4-52-3. Sophus Lie an H. Poincaré

[Ca. March 1883]

Lieber Poincaré !

Schon lange war es meine Absicht Ihnen einige Zeilen zu schreiben. Zunächst meinen herzlichsten Dank für das ausgezeichnete Wohlwollen, das Sie mir während meines Aufenthaltes in Paris zeigten. Sodann meinen innigsten Dank für die glänzenden Arbeiten die Sie mir successiv geschickt haben. Ich kannte ihre alten Arbeiten ausgenommen ihre Dissertation, die ich schon längst bei Gauthier-Villars ohne Erfolg bestellt hatte.11endnote: 1 Poincaré (1879). Ihre Abhandlung in Acta, I,1, habe ich mit wahrem Genuss gelesen.22endnote: 2 Poincaré (1882b). Was ich meist bewundere (neben der Allgemeinheit des Resultats) ist die einfachen Mitteln vermöge deren Sie ein so schwieriges Problem bewältigt haben. Wenn nur Ihre weitere Arbeiten, deren Veröffentlichung auch ich wie die ganze mathematische Welt mit Spannung entgegen sehe, nicht grössere Kenntnisse in der modernen Funktionentheorie als ich besitze verlangen werden ! Ich hoffe es wird mir gelingen in Ihre Theorien einzudringen. Denn für mich hat die Funktionentheorie eben durch Ihre neue Funktionen ein ganz neues concretes Interesse erhalten.

Ich erlaube mich Ihnen ein Bischen über einige Resultate, die ich in den letzten Monate erhalten habe, zu schreiben. Es war nämlich überhaupt mein Wunsch Ihre Aufmerksamkeit auf les groupes continus (ich sage kurz: Transformationsgruppe) zu lenken. Ich glaube dass auch sie eine gewisse Rolle in der Theorie der Differentialgleichungen spielen werden. Les groupes discontinus zerfallen in zwei Hauptkategorien, jenachdem die Zahl der Substitutionen endlich oder unendlich. Dementsprechend giebt es zwei Classen groupes continus jenachdem die Zahl der Parameter begrenzt oder unbegrenzt ist. Zu der ersten Categorie gehört die lineare Gruppe

x=ax+by+cαx+βy+γ,y=Ax+By+Cαx+βy+γx^{\prime}=\frac{ax+by+c}{\alpha x+\beta y+\gamma},\qquad y^{\prime}=\frac{Ax+% By+C}{\alpha x+\beta y+\gamma}

mit 8 wesentlichen Parametern. Zu der zweiten Categorie gehört z.B. der Inbegriff aller conformen Transformationen der Ebene. Dieselben sind ja bestimmt durch Gleichungen

x+iy=F(x+iy),x-iy=f(x-iy)x^{\prime}+\text{i}y=F(x+\text{i}y),\qquad x^{\prime}-\text{i}y=f(x-\text{i}y)

mit zwei arbiträren Funktionen. Ein zweites Beispiel ist der Inbegriff aller Transformationen, die alle Flächenräume invariant lassen 10 .

Ich habe nun längst allgemeine Methoden zur Bestimmung aller groupes continus mit einer begrenzten Anzahl Parametern eines nn-fach ausgedehnten Raumes. Ich habe z.B. gezeigt dass alle derartige Transformationsgruppen der Ebene sich durch Anwendung von zweckmässigen Coordinaten auf gewisse canonische Formen bringen lassen.

Was dagegen die continuirlichen Gruppen mit unendlich vielen Parametern betraf, so hatte ich keine allgemeine Methode zu ihrer Bestimmung, wenn ich auch wichtige Classen derartiger Gruppe lângst eingehend untersucht hatte. Es war mir sogar nicht klar wie ich das betreffende Problem exact formuliren könnte. Jetzt bin ich hier vorwärts gekommen. Ich behandle continuirliche Gruppe mit unendlich vielen Parametern ebenso leicht wie diejenigen mit einer begrenzten Zahl. Insbesondere habe ich alle unendlichen und continuirliche Gruppen der Ebene vollständig bestimmt.

Beschränke ich mich auf Gruppen von Punkttransformationen (d.h. Transformationen zwischen xx yy und x1x_{1} y1y_{1}, bei denen y1y_{1} und x1x_{1} nur von xx yy und nicht von dydx\frac{dy}{dx} abhängen) so habe ich u.A. der Satz:

Enthält eine continuirliche Gruppe unendlich viele Parameter, so sind zwei Hauptfâlle möglich, jenachdem die Gruppe eine Differentialgleichung f(xyyy(m))=0f(x\ y\ y^{\prime}\ \ldots\ y^{(m)})=0 invariant lässt oder nicht. Giebt es eine invariante Differentialgleichung, so ist dieselbe von erster Ordnung. Giebt es keine invariante Gleichung f=0f=0, so kann die Gruppe durch Einführung von zweckmassigen Variabeln auf die eine unter zwei canonischen Formen gebracht werden. Die eine canonische Form besteht von denjenigen Transformationen, welche alle Flächenräume invariant lassen. Die zweite canonische Form besteht von denjenigen Transformationen, welche alle Flächenräume nach constanten Verhältnisse ändern.

Sucht man andererseits alle continuirliche Gruppen von unendlich vielen Transformationen zwischen xx yy, die eine Differentialgleichung f(xyy)=0f(x\ y\ y^{\prime}\quad)=0 invariant lassen, so erhält man eine Reihe canonische Formen, die ich hier nicht aufzählen werde. Ich bemerke nur dass die Gruppe aller conformen Transformationen der Ebene eine solche canonische Form ist. Sie entschuldigen hoffentlich, dass ich soviel über meine Untersuchungen schreibe !

Soeben erhalte ich das dritte Heft von Acta. Ich habe Ihre grosse Arbeit bis jetzt nur durchgeblättert.33endnote: 3 Poincaré (1882a). Ich habe aber schon den Eindruck, dass ich Ihre Untersuchungen ziemlich leicht verstehen werden. Die Mathematiker können Ihnen nicht hinlänglich danken, dass Sie Ihre Arbeiten so schnell, so ausführlich und so klar publiciren.

Ich schicke Ihnen gleichzeitig eine Photographie Abels, die ich versäumt haben Ihnen früher zu schicken. Ich bedaure dies um so mehr, da Abels Bild ja Acta mitfolgen wird. Ich hatte aber das betreffende Bild für Sie bestellt lange früher als Leffler mir über das Bild in Acta schrieb.

Indem ich schliesse darf ich Sie bitten meine Grüsse an Ihre liebenswürdige Frau überzubringen.

Mit ausgezeichneter Hochachtung Ihr ergebener

Sophus Lie

ALS 7p. Private collection, Paris 75017. Letter previously transcribed and annotated in Dugac (1989, 151–153), with a French translation (165–167).

Time-stamp: "11.08.2022 19:58"

Notes

Literatur

  • P. Dugac (1989) Henri Poincaré, la correspondance avec des mathématiciens (de J à Z). Cahiers du séminaire d’histoire des mathématiques 10, pp. 83–229. link1 Cited by: 4-52-3. Sophus Lie an H. Poincaré.
  • H. Poincaré (1879) Sur les propriétés des fonctions définies par les équations aux différences partielles. Ph.D. Thesis, Faculté des sciences de Paris, Paris. link1 Cited by: endnote 1.
  • H. Poincaré (1882a) Mémoire sur les fonctions fuchsiennes. Acta mathematica 1, pp. 193–294. link1 Cited by: endnote 3.
  • H. Poincaré (1882b) Théorie des groupes fuchsiens. Acta mathematica 1, pp. 1–62. link1 Cited by: endnote 2.