4-52-6. Sophus Lie an H. Poincaré

[Ca. late 1888 to 1889]

Leipzig Seburgstrasse 5.

Hochgeehrter Herr !

Sie sind so freundlich gewesen auch mir das Repertoir zuzuschicken.11endnote: 1 Poincaré probably sent Lie the booklet outlining the categories proposed for the Répertoire bibliographique des sciences mathématiques, which was published in June, 1888 (Commission permanente du Répertoire, 1888). Poincaré presided the Permanent Commission, which organized a congress in Paris from 16 to 19 July, 1889 (Commission permanente du Répertoire, 1893). On the history of the Répertoire, see Rollet and Nabonnand (2003). Dasselbe interessiert mich lebhaft; es ist ja ein ebenso wichtiges als schwieriges Unternehmen. Ich habe nicht Zeit gefunden Ihnen früher darüber zu schreiben. Heute schicke ich endlich in aller Eile einige Bemerkungen.22endnote: 2 None of Lie’s suggested modifications were taken up in the taxonomies of the Permanent Commission published in 1890 and 1893.

Meine Bemerkungen beziehen sich besonders auf Substitutionsgruppen und Transformationsgruppen. Die ersten beschäftigen sich mit discreten Gegenständen; die letzteren mit continuirlichen Gebieten. Wäre es nicht richtig diesem Wesensunterschied Rechnung zu tragen. Es ist kaum möglich den Begriff Transformationsgruppe vollständig zu erschöpfen; ich kann es jedenfalls nicht machen. Die wichtigsten Categorien sind die discontinuirlichen und die continuirlichen. Diejenigen Transformationsgruppen die weder discontinuirlich noch continuirlich sind, können vorläufig unberücksichtigt bleiben. Weitere Eintheilungsprincipe sind endliche und unendliche Tsfgruppen ferner Gruppen von Punkt und von Berührungstransformationen.

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen gehe ich zu den einzelnen Capitels.

Analysis.

Ad. El. A.

Die Nummer 4 wollte ich in zwei Nummer zerlegen.

44^{\prime}. Theorie der Galoisschen Substitutionsgruppen.

Hier gehören nach meiner Auffassung die Begriffe Transitivität, Primitivität; Zusammensetzung einer Substitutionsgruppe, facteurs de composition, u.s.w. Ferner substitutions linéaires, groupe orthogonal, abelien, …

Dann käme als selbstständige Nummer

4′′4^{\prime\prime}. Theorie den Auflösung algebraischer Gleichung insbesondere durch Wurzel.

Ad. Cl. B. Die Nummer substitutions linéaires wollte ich streichen, da sie ungleichartige Gegenstände enthält.

Dagegen wollte ich eine besondere Nummer über :

Discontinuirliche Transformationsgruppen machen.

Hier ist die Begriffsbildung eine andre als in der Substitutionstheorie. Solange man nicht bestimmte invariante Schaaren von discreten Gebilden ins Auge fasst, so kann man z.B. nicht die Begriffe Transitivität Primitivität anwenden. In dieser Nummer müsste man zwischen endlichen und unendlichen Gruppen unterscheiden. Der Begriff invariante (ausgez.) Untergruppe spielt eine grosse Rolle. Ueberhaupt die Theorie der Zusammensetzung einer endlichen discontinuirlichen Gruppe führt sich ja ohne weiter auf denselben Begriff der Substitutionstheorie zurück. Dagegen hat der Begriff unendliche discontinuirliche Transformationsgruppe kein Aequivalent in der Galoisschen Substitutionstheorie.

In dieser Nummer müssten natürlich die discont. linearen Trfgruppen die Hauptrolle spielen. Diese Theorie hat ja schon eine capitale Wichtigkeit gewonnen.

Ad. Cl. H. (S. 17). Nach Nummer 6 wollte ich eine Nummer einschalten.

Lineare totale und partielle Differentialgl. ersten Ordnung.

a. Das Pfaffsche Problem

b. Vollständige Systeme von linearen partiellen oder linearen totalen Differentialgleichungen (Jacobi, Clebsch und Mayer).

c. Differentialgleichungen beliebiger Ordnung, deren allgemeinste Lösungen nur eine begrenzte Anzahl Constante enthalten.

Nach meiner Auffassung hat das Pfaffsche Problem und die Theorie der vollständigen Systeme eine ganz capitale Bedeutung. Die in Nummer c. angebrachte wichtige Theorie könnte auch unter b. angebracht werden.

Ad. Cl. H. Nummer 7. (S. 17). In dieser Nummer scheint es mir, dass sowohl Jacobis Vorgänger wie Nachfolger zu wenig berücksichtigt werden.

a. Lagrange’s Integration d. Gl. F(xyzpq)=0F(x\ y\ z\ p\ q)=0. Monge’s Interpretation.

b. Vollständige und singuläre Lösung.

c. Pfaffs allgemeine Theorie.

d. Cauchys Integration Methode.

e. Jacobis Integrationsmethode, Poisson-Jacobischer Satz. Jacobische Identität.

f. Neuere Integrationstheorien.

g. Theorie der Berührungstransformationen.

h. Specielle Gleichungen.

Ad. Cl. H, 8.

Ich wollte nach e:

Neuere Integrationstheorien von Darboux und Moutard besonders hervorheben.

Ad. Cl. J. N. 4 (S. 24). Diese Nummer sollte nach meiner Auffassung nur über continuirliche Transformationsgruppen in meinem Sinne des Wortes handeln. Der Gegenstand ist doch hinlänglich wichtig um eine besondere Nummer zu bilden und es liegt ja schon eine grosse Litteratur vor.

a. Endliche continuirliche Gruppen. Charakteristische Relationen zwischen den infinitesimalen Transformationen einer Gruppe. Isomorphismus.

b. Gruppen von Bewegungen. Lineare Gruppen. Complexe Zahlen.

c. Unendliche continuirliche Gruppen.

d. Transitivität. Invarianten. Primitivität. Aehnlichkeit.

e. Bestimmung von Gruppen.

f. Allgemeine Theorie der Differentialinvarianten einer endlichen oder unendlichen Gruppe.

g. Gruppen von Berührungstransformationen.

h. Differentialgleichungen, die eine continuirliche Gruppe gestatten.

Geometrie.

Cl. N. Die Kugelcomplexe und Kugelcongruenze müssen doch besonders genannt werden.

Ad. Cl. P. Die drei ersten Nummer scheinen mir gut.

Nummer 4. wollte ich Punkttransformationen nennen. Hier käme dann noch rationale Transformationen.

Nummer 5. würde ich Berührungstransformationen nennen.

a. Berührungstransformationen, welche die Krümmungslinien bewahren. Dilatation. Bonnet’s Transformation. Transformation par direction reciproque.

b. Die Berührungstransformation, welche Kugeln in Gerade umwandelt. Zusammenhang zwischen der Kugelgeometrie und der Liniengeometrie. Doppelflächen (Möbius). Laguerres geometrie de direction. (Die Transformation par direction reciproque et par semiplan reciproque gehört nicht Laguerre.)

c. Andere Berührungstransf. Die Fusspunkttransformation.

Endlich wollte ich als Schluss der Classe P ein Nummer 6 hinzufügen

6. Transformationen, welche keine Berührungstransformationen sind.

Derartige Transformationen fangen an eine immer grössere Rolle in der Geometrie und der Theorie der partiellen Differentialgleichungen zu spielen. Ein schönes Beispiel ist die Transformation welche Laplace auf Gleichungen

s+A(xy)p+B(xy)q+C(xy)rs+A(x\ y)p+B(x\ y)q+C(x\ y)r

anwendet; dieselbe ist neuerdings von Darboux in schönster Weise geometrisch interpretiert. Darboux hat selbst ausgedehnte Categorien derartiger Transformationen eingeführt. In der Theorie der Flächen constanter Krümmung spielen derartige Transformationen eine grosse Rolle. In der Theorie der Minimalflächen betrachtet man auch derartige Transformationen. Es ist überhaupt meine Auffassung dass diese Transformationen in der Zukunft eine immer grössere Rolle spielen werden.

Ueber die Geometrie möchte ich noch die allgemeine Bemerkung machen, dass die elementaren Theile der Geometrie verhältnissmässig breiter als die höheren Theile der Geometrie behandelt worden sind.

Indem ich schliesse wünsche ich Ihnen Glück mit Ihrem grossen Unternehmen. Es ist mir unbegreiflich dass Sie neben Ihrer grossen Productivität zu solchen Sachen Zeit finden. Gewiss ist eine rationelle Classification der mathematischen Litteratur eine ausserordentlich wichtige Sache.

Sie nehmen mir es hoffentlich nicht übel, dass ich meine Meinung rücksichtslos gesagt habe. Sie müssen entschuldigen, dass ich nicht Zeit habe meine Bemerkungen sorgfältiger zu redigiren.

Ihr ergebener

Sophus Lie

ALS 11p. Private collection, Paris 75017. Letter previously transcribed in Dugac (1989, 155–159), with a French translation (169–173).

Time-stamp: "15.08.2022 11:22"

Notes

  • 1 Poincaré probably sent Lie the booklet outlining the categories proposed for the Répertoire bibliographique des sciences mathématiques, which was published in June, 1888 (Commission permanente du Répertoire, 1888). Poincaré presided the Permanent Commission, which organized a congress in Paris from 16 to 19 July, 1889 (Commission permanente du Répertoire, 1893). On the history of the Répertoire, see Rollet and Nabonnand (2003).
  • 2 None of Lie’s suggested modifications were taken up in the taxonomies of the Permanent Commission published in 1890 and 1893.

Literatur

  • Commission permanente du Répertoire (Ed.) (1888) Projet de classification détaillée pour le répertoire bibliographique des sciences mathématiques. Gauthier-Villars, Paris. Cited by: endnote 1.
  • Commission permanente du Répertoire (Ed.) (1890) Projet de répertoire bibliographique des sciences mathématiques. Gauthier-Villars, Paris. link1 Cited by: endnote 2.
  • Commission permanente du Répertoire (Ed.) (1893) Index du répertoire bibliographique des sciences mathématiques. Gauthier-Villars, Paris. link1 Cited by: endnote 1, endnote 2.
  • P. Dugac (1989) Henri Poincaré, la correspondance avec des mathématiciens (de J à Z). Cahiers du séminaire d’histoire des mathématiques 10, pp. 83–229. link1 Cited by: 4-52-6. Sophus Lie an H. Poincaré.
  • L. Rollet and P. Nabonnand (2003) An answer to the growth of mathematical knowledge? The Répertoire bibliographique des sciences mathématiques. European Mathematical Society Newletter 47, pp. 9–14. link1 Cited by: endnote 1.