4-52-10. Sophus Lie an H. Poincaré

[Ca. October 1892]

Lieber Herr Poincaré!

Ich sage Ihnen meinen herzlichsten Dank für die mir gezeigte grosse Ehre. Ich schätze dieselbe so besonders hoch, weil jetzt wiederum der mathematische Schwerpunkt in Paris und Frankreich liegt. Es ist ganz merkwürdig, dass die deutsche Mathematik jetzt von der Einseitigkeit leidet, welche nach Cauchys Tod theilweise in der französischen Mathematik herrschte.

Soeben erhalte ich eine Arbeit des Herrn Vessiot über lineare Differentialgleichungen‚ die hoffentlich nach mehrern Richtungen günstig wirken wird. Mir interessiert diese Arbeit so stark, weil durch sie die Bedeutung meiner Gruppentheorie zur lineare Differentialgleichungen, welche Picard zuerst erkannt‚ so besonders klargestellt wird.11endnote: 1 On Darboux’s recommendation, during the summer semester of 1888 in Leipzig, Ernest Vessiot, a fresh graduate of the École normale supérieure in Paris, and his classmate Wladimir de Tannenberg followed Lie’s lectures (Hawkins, 2000, 196). Vessiot’s doctoral thesis (1892a; 1892b), based on Lie’s theory of transformation groups (Lie and Engel, 1888), and Picard’s Galois-type theory of ordinary linear differential equations (Picard, 1887), provided the framework for what was later called the Picard-Vessiot theory. Picard wrote a brief report on Vessiot’s thesis, in view of its defense on 13 June 1892; the manuscript in the French National Archives was edited by Gispert (1991, 353).

Es ist unbegreiflich wie weit die von Galois eingeführten Principien reichen. Und noch merkwürdiger ist es, dass man so lange Zeit braucht um das nach und nach zu erkennen. Galois Ideen herrschen nach und nach auf allen Gebieten.

Neuerdings hat mein alter Freund F. Klein eine Vorlesung über die Grundlagen der Geometrie veröffentlicht, die zwar schöne Partien enthält, welche aber in der Darstellung von Helmholtzs Theorien eine ganze Reihe von merkwürdige Fehler enthalten.22endnote: 2 Klein (1893).

Auch Lindemann veröffentlicht wiederum dummes Zeug über diesen Gegenstand.33endnote: 3 Lindemann had the audacity to criticize Lie’s theory directly in his notes to Clebsch’s lectures (Clebsch, 1891, 546). Lie responded in the third volume of the Theorie der Transformationsgruppen (Lie and Engel, 1893, 524), while offering a critical review of contributions on the Riemann-Helmholtz-Lie Problem of Space from Klein, de Tilly, Veronese and Killing.

Mit Engel redigiere ich eben für den dritten Abschnitt meiner Gruppentheorie eine ausführliche Abtheilung über diesen Gegenstand. Ich stelle eine ganze Anzahl Systeme von Axiome auf welche für die Geometrie einer Zahlen-Mannigfaltigkeit genügen. Diese Systeme sind alle sehr einfach.44endnote: 4 Lie and Engel (1893).

Es ist aber eine Frage auf die ich (ebensowenig wie Sie) eingehe.55endnote: 5 Lie is likely acknowledging Poincaré (1887).

Weierstrass hat mit Grund hervorgehoben, dass Euclid implicit voraussetzt, dass die Punkte der Gerade durch alle Zahlen dargestellt werden.

(Riemann und) v. Helmholtz gehen einen Schritt weiter und Setzen voraus dass der Raum eine Zahlen-Mannigfaltigkeit ist. Dieser Standpunkt ist sehr interessant, darf aber nicht als definitiv betrachtet werden.66endnote: 6 On the history of the Riemann-Helmholtz-Lie Problem, see Torretti (1984); Merker (2010).

Ich glaube die einfachsten Axiome für die Geometrie einer dreifach ausgedehnten Zahlen-Mannigfaltigkeit gefunden zu haben, nämlich

1) alle Bewegungen bilden eine Gruppe bei denen zwei Punkte eine und nur eine Invariante haben

2) getrennte Punkte bleiben immer getrennt.

Diese Axiome muss man wohl unter allen Umständen behalten. Mir scheint es aber nothwendig Axiome hinzuzufügen, welche jedenfalls theilweise die Annahme einer Zahlen-Mannigfaltigkeit ersetzen. Ueberdies muss man die beiden vorhergehenden Axiome anders einkleiden.

Man muss wohl Punkt, Raum, Fläche, Curve als Grundbegriffe einführen. Entfernung ebenso.

Alle Punkte die von einem gegebenen eine gewisse Entfernung haben bilden eine Fläche, welche durch den gegebenen Punkt nicht hindurchgeht.

So muss man wohl die Gerade axiomatisch in der bek. Weise einführen.

Nun wird man versuchen müssen die Ebene einzuführen …etc. …

Nachdem so die nothwendigen Begriffe vorliegen, so würde man die Sätze über Congruenz ableiten müssen.

Sodann das Parallelenaxiom, ferner das Axiom, dass die Punkte einer Gerade durch Coordinaten darstellbar sind.

endlich das Axiom über Flächengleichheit …

Es wäre mir lieb gelegentlich Ihre Meinung hierüber zu hören.77endnote: 7 In March, 1893, Lie visited Paris, where he met Élie Cartan (Hawkins, 2000, 198). Lie may have had the occasion to exchange views with Poincaré on the problem of space at that time. Sind Sie damit einverstanden, dass man bei Aufbau der Geometrie nicht mit der Auffassung des Raumes als Zahlen-Mannigfaltigkeit anfängt, sondern zunächst die Begriffe Fläche, Curve, Gerade, Ebene, etc. … einführt und die möglichen Sätze entwickelt dass man erst später nicht allein das Parallelenaxiom sondern auch die Auffassung der Gerade als Zahlen-Mannigfaltigkeit einführt …

Nach meiner Auffassung ist man noch weit davon entfernt die Grundlagen der Geometrie gut begründet zu haben.

Meine Gruppentheorie beherrscht wohl die Grundlagen der Geometrie einer Zahlen-Mannigfaltigkeit nicht aber die Grundlagen der Geometrie des Raumes !!

Ich beschränke mich darauf die Geometrie einer Zahlen-Mannigfaltigkeit auf die einfachsten Principien zurückzuführen. Dies ist nicht so ganz leicht; denn Riemanns Arbeit ist nur ein Anfang während in Helmholtz Arbeit wohl die Tendenz richtig, die Durchführung aber falsch ist.

Wäre ich jetzt zwanzig Jahre jünger, so würde ich versucht haben den nächsten ungleich schwierigeren Schritt zu gehen. In den Jahren 1867–68 beschäftigte ich mich lebhaft mit derartigen Fragen, die mir doch damals zu schwer waren.

Unter allen Umständen ist es meine Ueberzeugung, dass wir bald wesentlich weiter kommen werden. Merkwürdig ist es dass nicht allein Legendre und v. Helmholtz sondern auch Lobatschevsky und Riemann sich in allerdings secundären Punkten geirrt haben. Ich empfehle Ihren jungen Landsmann Tresse, der soeben von Leipzig nach Paris zurückkehrt, zu Ihrer Aufmerksamkeit. Herr Tresse ist ein begabter Mathematiker mit guten Kenntnissen, von dem man viel erwarten kann.88endnote: 8 Arthur Tresse (1869–1958) was a graduate of the École normale supérieure, who defended his thesis in Paris on the differential invariants of continuous groups of transformations, on 30 November 1893 (Tresse, 1893). The manuscript of Picard’s report in the French National Archives was edited by Gispert (1991, 356).

Ihr ergebener

S. Lie

ALS 8p. Private collection, Paris 75017. Letter previously transcribed and annotated in Dugac (1989, 161–163), with a French translation (175–177).

Time-stamp: "22.09.2022 23:32"

Notes

  • 1 On Darboux’s recommendation, during the summer semester of 1888 in Leipzig, Ernest Vessiot, a fresh graduate of the École normale supérieure in Paris, and his classmate Wladimir de Tannenberg followed Lie’s lectures (Hawkins, 2000, 196). Vessiot’s doctoral thesis (1892a; 1892b), based on Lie’s theory of transformation groups (Lie and Engel, 1888), and Picard’s Galois-type theory of ordinary linear differential equations (Picard, 1887), provided the framework for what was later called the Picard-Vessiot theory. Picard wrote a brief report on Vessiot’s thesis, in view of its defense on 13 June 1892; the manuscript in the French National Archives was edited by Gispert (1991, 353).
  • 2 Klein (1893).
  • 3 Lindemann had the audacity to criticize Lie’s theory directly in his notes to Clebsch’s lectures (Clebsch, 1891, 546). Lie responded in the third volume of the Theorie der Transformationsgruppen (Lie and Engel, 1893, 524), while offering a critical review of contributions on the Riemann-Helmholtz-Lie Problem of Space from Klein, de Tilly, Veronese and Killing.
  • 4 Lie and Engel (1893).
  • 5 Lie is likely acknowledging Poincaré (1887).
  • 6 On the history of the Riemann-Helmholtz-Lie Problem, see Torretti (1984); Merker (2010).
  • 7 In March, 1893, Lie visited Paris, where he met Élie Cartan (Hawkins, 2000, 198). Lie may have had the occasion to exchange views with Poincaré on the problem of space at that time.
  • 8 Arthur Tresse (1869–1958) was a graduate of the École normale supérieure, who defended his thesis in Paris on the differential invariants of continuous groups of transformations, on 30 November 1893 (Tresse, 1893). The manuscript of Picard’s report in the French National Archives was edited by Gispert (1991, 356).

Literatur

  • A. Clebsch (1891) Vorlesungen über Geometrie, Volume 2, Part 1. Teubner, Leipzig. link1 Cited by: endnote 3.
  • P. Dugac (1989) Henri Poincaré, la correspondance avec des mathématiciens (de J à Z). Cahiers du séminaire d’histoire des mathématiques 10, pp. 83–229. link1 Cited by: 4-52-10. Sophus Lie an H. Poincaré.
  • H. Gispert (1991) La France mathématique : la Société mathématique de France (1870–1914). SFHST, Paris. Cited by: endnote 1, endnote 8.
  • T. Hawkins (2000) Emergence of the Theory of Lie Groups: An Essay in the History of Mathematics. Springer, Berlin. Cited by: endnote 1, endnote 7.
  • F. Klein (1893) Nicht-Euklidische Geometrie. Lithograph, Göttingen. link1 Cited by: endnote 2.
  • S. Lie and F. Engel (1888) Theorie der Transformationsgruppen, Volume 1. Teubner, Leipzig. link1 Cited by: endnote 1.
  • S. Lie and F. Engel (1893) Theorie der Transformationsgruppen, Volume 3. Teubner, Leipzig. link1 Cited by: endnote 3, endnote 4.
  • J. Merker (2010) Le problème de l’espace : Sophus Lie, Friedrich Engel et le problème de Riemann-Helmholtz. Hermann, Paris. link1 Cited by: endnote 6.
  • É. Picard (1887) Sur les équations différentielles linéaires et les groupes algébriques de transformations. Annales de la Faculté des sciences de Toulouse 1 (1), pp. 1–15. link1 Cited by: endnote 1.
  • H. Poincaré (1887) Sur les hypothèses fondamentales de la géométrie. Bulletin de la Société mathématique de France 15, pp. 203–216. link1 Cited by: endnote 5.
  • R. Torretti (1984) Philosophy of Geometry from Riemann to Poincaré. Reidel, Dordrecht. link1 Cited by: endnote 6.
  • A. Tresse (1893) Sur les invariants différentiels des groupes continus de transformations. Ph.D. Thesis, Faculté des sciences de Paris, Paris. Cited by: endnote 8.
  • E. Vessiot (1892a) Sur l’intégration des équations différentielles linéaires. Annales scientifiques de l’École normale supérieure 9, pp. 197–280. link1, link2 Cited by: endnote 1.
  • E. Vessiot (1892b) Sur l’intégration des équations différentielles linéaires. Ph.D. Thesis, Faculté des sciences de Paris, Paris. Cited by: endnote 1.