4-44-21. Felix Klein an H. Poincaré

Leipzig, 7. Mai 1882

Sophienstraße 10

Sehr geehrter Herr !

Vor kurzem las ich Ihre Note in den Comptes rendus vom 10. April 1882.11endnote: 1 Poincaré (1882); Nörlund and Lebon (1916, 41–43). Dieselbe hat mich um so mehr interessiert, als ich glaube, daß Ihre jetzigen Betrachtungen mit den meinigem auch der Methode nach eng verwandt sind. Ich beweise meine Sätze durch Kontinuität, indem ich die beiden Lemmata vorausstelle: 1. daß zu jeder „groupe discontinu“ eine Riemann’sche Fläche zugehört, und 2. daß zu der einzelnen zweckmäßig zerschnittenen Riemann’schen Flächen immer* nur eine solche Gruppe gehören kann (sofern ihr überhaupt eine Gruppe zugehört).

Die Reihenentwickelungen, wie Sie dieselben aufstellen, habe ich bislang noch ganz außer Betracht gelassen. Wie beweisen sie eigentlich die Existenz der Zahl mm, für welche 1(γiη+δi)m\sum\frac{1}{(\gamma_{i}\eta+\delta_{i})^{m}} absolut konvergiert ? Und haben Sie für dieselbe eine genaue oder eine approximative unterer Grenze?

Ich selbst habe mittlerweile den betr. Sätzen wieder allgemeinere Gestalt gegeben, und da die Fertigstellung einer Annalennote im Augenblicke, wo ich sehr wenig Zeit habe, sich noch etwas hinausziehen muß, so schreibe ich Ihnen wieder davon. Im Falle meines ersten Satzes wurde die Gesamtkugel η\eta mit Ausnahmen unendlich vieler Punkte von den wiederholten Reproduktionen des Fundamentalbereiches überdeckt. Im Falle des zweiten Satzes bleibt das Innere einer Kreisfläche, aber nur einer einzigen, unbedeckt. Ich habe jetzt die Existenz von Darstellungen konstatiert (die für die einzelne Riemannsche Fläche wieder immer und immer auch nur in einer Weise vorhanden sind), bei welcher unendlich viele Kreisflächen ausgeschlossen werden. In dieser Richtung formuliere ich hier nur den allereinfachsten Satz (bei welchem durchaus unverzweigte Darstellung der Riemann’schen Fläche vorausgesetzt wird.

Sei p=μ1+μ2++μmp=\mu_{1}+\mu_{2}+\ldots+\mu_{m}, wo vorab keines der μ=1\mu=1 sein mag. So nehme man auf der Riemannschen Fläche mm Punkte O1O_{1}, …, OmO_{m}, und liege von O1O_{1} in der bekannten Weise 2μ12\mu_{1} Querschnitte A1A_{1}, B1B_{1}; A2A_{2}, B2B_{2}; …; Aμ1A_{\mu 1}, Bμ1B_{\mu 1}; von O2O_{2} 2μ22\mu_{2} Querschnitte usw. Andererseits konstruire man auf der η\eta-Kugel mm auseinanderliegende Kreise und innerhalb des von letzteren gemeinseim begrenzten Raumes ein Kreisbogenpolygon, das von 4μ14\mu_{1} Kreisen begrenzt ist, welche auf dem ersten Fundamentalkreise senkrecht stehen, dann ferner von 4μ24\mu_{2} Kreisen, die auf dem zweiten Fundamentalkreise senkrecht stehen, usw. (also ein Kreisbogenpolygon, das mm-fachen Zusammenhang hat). Die begrenzenden Kreise werden paarweise in der bekannten Reihenfolge A1A_{1}, B1B_{1}, A1-1A_{1}^{-1}, B1-1B_{1}^{-1}, A2A_{2}, B2B_{2} …zusammengeordnet, und zwar durch lineare Substitutionen des η\eta, bei denen jeweils der betreffende Fundamentalkreis invariant bleibt. Überdies sei das Produkt der betreffenden linearen Substitutionen also etwa: A1B1A1-1B1-1Aμ1-1Bμ1-1A_{1}B_{1}A_{1}^{-1}B_{1}^{-1}\ldots A_{\mu 1}^{-1}B_{\mu 1}^{-1} allemal der Identität gleich. Dann gibt es immer eine und zwar eine analytische Funktion, welche die zerschnittene Riemannsche Fläche auf ein derart beschaffenes Kreisbogenpolygon abbildet. Der Fall, daß eines der μ\mu gleich 1 wird, unterscheidet sich nur dadurch, daß dann der zugehörige Fundamentalkreis sich auf einen Punkt zusammenzieht und die entsprechenden linearen Substitutionen in diejenigen „parabolischen“ übergehen, welche jenen Punkt fetlassen. Doch genug für heute. Wäre es nicht möglich, eine vollständige Kollektion von Separatabzügen Ihrer einschlägigen Arbeiten zu bekommen ? Wenn es angeht, beginne ich nach Pfingsten in meinem Seminare eine Reihe von Vorträgen über eindeutige Funktionen mit linearen Transformationen in sich, und möchte dabei meinen Zuhörern eine solche Kollektion zur Verfügung stellen.

Hochachtungsvoll, Ihr

F. Klein

* d.h. unter den Beschränkungen des jeweiligen Satzes.

PTrL. Nörlund (1923, 124–125); Fricke et al. (1923, 612–613); Julia and Petiau (1956, 56–57). See also the translations to English (§ 7-2-66) and French (§ 7-2-40), as well as Poincaré’s reply (§ 4-44-22).

Time-stamp: "8.08.2022 17:49"

Notes

  • 1 Poincaré (1882); Nörlund and Lebon (1916, 41–43).

Literatur

  • R. Fricke, H. Vermeil, and E. Bessel-Hagen (Eds.) (1923) Felix Klein Gesammelte mathematische Abhandlungen, Volume 3. Springer, Berlin. link1 Cited by: 4-44-21. Felix Klein an H. Poincaré.
  • G. Julia and G. Petiau (Eds.) (1956) Œuvres d’Henri Poincaré, Volume 11. Gauthier-Villars, Paris. link1 Cited by: 4-44-21. Felix Klein an H. Poincaré.
  • N. E. Nörlund and E. Lebon (Eds.) (1916) Œuvres d’Henri Poincaré, Volume 2. Gauthier-Villars, Paris. link1 Cited by: endnote 1.
  • N. E. Nörlund (1923) Correspondance d’Henri Poincaré et de Felix Klein. Acta mathematica 39, pp. 94–132. link1 Cited by: 4-44-21. Felix Klein an H. Poincaré.
  • H. Poincaré (1882) Sur les fonctions fuchsiennes. Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des sciences de Paris 94, pp. 1038–1040. link1 Cited by: endnote 1.