4-44-23. Felix Klein an H. Poincaré
Leipzig, 14. Mai 1882
Sehr geehrter Herr !
In Beantwortung Ihres eben eintreffenden Briefes möchte ich Ihnen mit zwei Worten mitteilen, wie ich die „Kontinuität“ verwende. Freilich nur im Prinzip ; denn die Ausführung im einzelnen, die bei der Redaktion viel Mühe machen wird, läßt sich jedenfalls mannigfach modifizieren. Ich will mich auf den Fall der durchaus unverzweigten -Funktion der zweiten Art, wie ich sie in meiner Note nannte, beschränken. Hier handelt es sich vor allem um den Nachweis, daß die beiden zu Vergleich kommenden Mannigfaltigkeiten : die Mannigfaltigkeit der in Betracht kommenden Substitutionssyteme und anderseits die Mannigfaltigkeit der überhaupt existierenden Riemannschen Flächen, nicht nur dieselbe Dimensionenzahl ( reelle Dimensionen) besitzen, sondern daß sie auch analytische Mannigfaltigkeiten mit analytischen Grenzen sind (im Sinne der von Weierstrass eingeführten Terminologie). Diese beiden Mannigfaltigkeiten sind nin infolge des ersten in meinem vorigen Briefe angeführten Lemmas ()-deutig aufeinander bezogen, wo dem zweiten Lemma zufolge für die verschiedenen Partien der zweiten Mannigfaltigkeit nur 0 oder 1 sein kann. Nun aber erweist sich jene Beziehung als eine analytische und zwar, wie wieder aus den beiden Hilfssätzen folgt, als eine analytische von nirgends verschwindender Funktionaldeterminante. Hieraus schließe ich daß durchweg 1 sein muß. Gäbe es nämlich einen Übergang von Gebieten mit zu solchen mit , so würden den Punkten des Übergangsgebietes wegen des analytischen Charakters der Zuordnung bestimmte (wirklich erreichbare) Punkte der anderen Mannigfaltigkeit entsprechen und für diese müßte dann, dem Bemerkten zuwider, die Funktionaldeterminante der Beziehung verschwinden. So weit mein Beweis.
Einen ganz anderen, doch auch auf Kontinuitätbetrachtungen beruhenden, teilte mir Herr Schwarz mit, als ich ihn neulich (am 11. April) in Göttingen besuchte. Ohne Gerade von ihm autorisiert zu sein, meine ich Ihnen doch auch davon schreiben zu sollen. Schwarz denkt sich die Riemannsche Fläche in geeigneter Weise zerschnitten, sodann unendlichfach überdeckt und die verschiedenen Überdeckungen in den Querschnitten so zusammengefügt, daß eine Gesamtfläche entsteht, welche der Gesamtheit der in der -Ebene nebeneinander zu legenden Polygonen entspricht. Diese Gesamtfläche ist, sofern man von solchen Attributen bei unendlich ausgedehnten Flächen sprechen kann (was eben erläutert werden muß), im Falle der -Funktion 2. Art (auf die sich Schwarz zunächst beschränkte) einfach zusammenhängend und einfach berandet, und es handelt sich also nur darum einzusehen, daß man auch eine solche einfach zusammenhängende, einfach berandete Fläche in der bekannten Weise auf das Innere eines Kreises abbilden kann. Dieser Schwarsche Gedankengang ist jedenfalls sehr schön.
Sie fragen wegen der Separatabzüge. Ich möchte Ihnen da vor allem naturlich nicht lästig fallen, und dies um so weniger, als ich mir ja alle Ihre Publikationen, mit alleiniger Ausnahme Ihrer Thèse, immer verschaffen kann. Wenn Sie mir also einige Sachen zuschicken können (ich besitze noch keine derselben), so wird es mir sehr angenehm sein.
Haben Sie vielleicht einmal Lies Theorie der Transformationsgruppen gelesen? Lie denkt sich die in seine Gruppen eingehenden Parameter immer als komplexe Größen ; es wäre interessant zu sehen, wie sich seine Resultate vervollständigen ließen, wenn man auch solche Gruppen in Betracht zöge, die nur durche reelle Wiederholung gewisser kleiner Operationen enstehen.
Hermite schickte mir vor längerer Zeit eine Nummer seines lithographierten Cours d’Analyse. Wäre es vielleicht möglich (naturlich gegen Bezahlung) das ganze bekommen ? Ich würde das für mein Seminar in anbetracht der Zwecke, die ich eben jetzt verfolge, mit besondere Freude begrüßen.
Wie immer,
Ihr ergebener,
F. Klein
PTrL. Nörlund (1923, 127–128); Fricke et al. (1923, 615–616); Julia and Petiau (1956, 59–60). See also the translations in English (§ 7-2-68) in French (§ 7-2-41), and Poincaré’s reply (§ 4-44-24).
Time-stamp: "8.08.2022 17:49"
Literatur
- Felix Klein Gesammelte mathematische Abhandlungen, Volume 3. Springer, Berlin. link1 Cited by: 4-44-23. Felix Klein an H. Poincaré.
- Œuvres d’Henri Poincaré, Volume 11. Gauthier-Villars, Paris. link1 Cited by: 4-44-23. Felix Klein an H. Poincaré.
- Correspondance d’Henri Poincaré et de Felix Klein. Acta mathematica 39, pp. 94–132. link1 Cited by: 4-44-23. Felix Klein an H. Poincaré.