Zum Jubiläum der Universität Berlin
Transcribed from Blaserna et al. (1910, 195–196)

Henri Poincaré
(December, 1910)

Die Universität Berlin sieht auf ihr 100jähriges Bestehen zurück; diese hundert Jahre fruchtbarsten und reichhaltigsten, welche die Geschichte der Wissenschaft bis jetzt aufzuweisen hat. Will man sich Rechenschaft davon ablegen, welchen Platz die Universität Berlin in der wissenschaftlichen Welt dieses Jahrhunderts eingenommen hat, so genügt es, sich die Namen eines Fichte, Hegel, Mommsen, Ranke, Savigny und Niebuhr in Erinnerung zu rufen, auf dem Gebiete der Naturwissenschaft aber Männer wie Jacobi, Kronecker, Weierstraß, Helmholtz und Virchow. Und dabei spreche ich nur von denen, deren Wirken schon abgeschlossen hinter uns liegt.

Ist es nun ein Zufall, der so viel Ruhm an einer Stätte vereinigt hat, oder müssen wir nach einer tieferen Ursache suchen, die dieses Aufblühen begünstigte, einer Ursache, die in der besonderen Natur des deutschen Volkes begründet liegt?

Ohne Zweifel hat jeder geniale Mensch die Bedingungen seines Wesens nur in sich selbst; er gleicht keinem anderen und ist weit entfernt von jeglicher Schablone. Er würde aber nicht das sein, was er ist, wenn er nicht die Masse der bescheidenen Arbeiter hinter sich hätte. Diese tragen deutlicher das Kennzeichen ihres Geburtslandes an sich, und solcher Arbeiter besitzt Deutschland eine unvergleichlich große Phalanx, und hierin ruht eine Quelle seiner Kraft!

Dieser deutsche Geistesarbeiter hat Geduld, Zähigkeit und Gewissenhaftigkeit. Nichts entmutigt ihn, keiner Kleinigkeit gegenüber zeigt er Gleichgültigkeit oder Mißachtung. Den Blick auf das Ideal gerichtet, das er nicht zu erreichen vermag, aber zu dem ihm seine geistigen Führer den Weg zeigen, legt er weniger Wert darauf, weithin sichtbare als gründliche Arbeit zu leisten, der die Kritik nichts anhaben kann. Dieser geistige Arbeiter bescheidet sich damit, einen Stein zu dem großen Gebäude herbeizutragen, und er hat nicht den Ehrgeiz, für sich allein ein Werk aufzuführen, dem er seinen Namen aufstempeln kann. Er fühlt sich belohnt für ein ganzes langes Leben der Arbeit mit den wenigen Zeilen, die ihm die Bibliographen widmen ….

Solche Tugenden müssen von Jahr zu Jahr im Werte steigen. Denn je weiter sich die Eroberungen der Wissenschaft ausdehnen, um so mehr bedarf sie einer wohlgeschulten Truppe. Männer dieses Schlages sind die bescheidenen und unbekannten Soldaten, die im Schatten der ruhmreichen Generale fechten und diesem die Erfüllung ihrer Aufgabe ermöglichen. Deutschland besitzt Männer beiderlei Art, und seine große Zahl bedeutender Führer wird bedingt durch seinen Reichtum an Soldaten.

Ich will nun nicht sagen, daß die geistigen Führer ausschließlich von der rastlosen und heimlichen Arbeit der vorangehenden Geschlechter ihren Nutzen ziehen. Aber ich frage mich: wer gibt ihnen den Mut zu ihrem Wirken? Ist es nicht diese unabsehbare Schar von Schülern, die zu Füßen ihrer Katheder sitzen? In ihnen erblicken sie die unentbehrlichen Mitarbeiter, von ihnen wissen sie, daß sie bereit sind, die tausend kleinen undankbaren und ermüdenden Nebenarbeiten zu besorgen, unter deren Last die Keimfähigkeit ihrer Gedanken ersticken würde. Hierin besteht der Vorteil, den Ihre deutschen Meister den Überlieferungen der deutschen Disziplin zu verdanken haben!

Ohne Zweifel ist nun die Disziplin notwendig, aber die Wissenschaft lebt vor allem von der Freiheit. Wo aber können und werden sich diese beiden einander entgegengesetzten Strömungen vereinigen? Die Antwort kann nur lauten: auf den Universitäten. Unter ihnen aber sind es die deutschen Hochschulen, die zuerst dieses schwierige Problem gelöst haben. In den anderen Ländern hat man sie erst später zum Vorbild genommen. Ohne Zweifel lag diese Tendenz auch vorgebildet in den alten Überlieferungen unserer Pariser Universität; nur hatten wir sie vergessen, um andere Wege zu gehen, auf welchen wir dann und wann ebenfalls Gelegenheit fanden, Ruhm zu ernten; bei Ihnen aber haben wir jene Traditionen wiedergefunden, umgewandelt und den Bedürfnissen des modernen Lebens angepaßt.

Die Hochschulen haben eine doppelte Freiheit proklamiert, diejenige des Lehrens und diejenige des Lernens. Jeder kann dahin gehen, wohin ihn sein Geschmack und seine Neigungen treiben, aber er steht nicht als einzelner da. Die Eigenart des Universitätslebens nähert den einen dem andern, und, wie der Soldat sagt, man hat Ellenbogenfühlung. Man ist durchdrungen vom Gefühl der Pflicht, die man als Glied des Ganzen zu erfüllen hat, und man unterwirft sich leicht der allgemeinen Disziplin, weil man es freiwillig tut.

Was für Individuen gilt, gilt auch für die Nationen; die Volksgenien sind nicht weniger von einander unterschieden als die genialen Individuen, und diese Unterschiede sind eine Notwendigkeit. Jedes Volk soll eifersüchtig die Eigenschaften erhalten, welche ihm die Natur gegeben hat und ohne den Nachbarn in serviler Weise nachzuäffen, soll es das Werk vollenden, für welches es geboren ist. Aber jedes Volk soll auch das Bewußtsein haben, das ihm nur ein Instrument in dem großen Orchester zugewiesen ist, und darum sollen wir jede Gelegenheit zur Annäherung aufsuchen. So allein werden wir lernen, die geistigen Kräfte nicht zu mißachten, die von den unsrigen verschieden sind, und die mit bestem Willen vereinigten Anstrengungen werden uns rascher zum gemeinsamen Ziele führen!

Time-stamp: "30.11.2022 13:46"

Literatur

  • P. Blaserna, H. Poincaré, and W. Ramsay (1910) Zum Jubiläum der Universität Berlin. Mathematisch-naturwissenschaftliche Blätter 7 (12), pp. 194–196. link1 Cited by: Zum Jubiläum der Universität Berlin Transcribed from Blaserna et al. (1910, 195–196).